Deutschland – ein Sonnenmärchen

von Rico Apitz
August 1999


Es war einmal eine Gruppe furchtloser, verwegener, begeisterungsfähiger und grenzenlos optimistischer Sonnenfinsternisbeobachter. Sie schlugen am Vorabend des Jahrhundertereignisses, das ihr weiteres Dasein nachhaltig prägen sollte, ihr Lager in Walldorf auf. Die Ureinwohner dieses Ortes in der Nähe von Heidelberg nahmen sie gastfreundlich auf. Sie aßen Flammkuchen – ein germanischer Vorläufer der durch Gastarbeiter hierzulande wieder kultivierten Pizza – und tranken Kölsch – ein angeblich dem allseitsbekannten Bier verwandtes Gebräu.

Da Walldorf genau am Rande der Zone gelegen war, in der die Sonne sich verfinstern würde, entschlossen sich unsere Helden, ihre Fortbewegungsmittel zu satteln und in die Landstriche aufzubrechen, die nicht nur eine lange Dauer der Finsternis versprachen, sondern auch eine ungetrübte Sicht auf das kosmische Spektakel erwarten ließen. Über Radiowellen verbreitete sich die Kunde, dass im unweit gelegen Saarland – in dem die meisten Eingeborenen der deutschen Sprache rudimentär mächtig sind – ein klarer Himmel freie Sicht auf die Sonne erlauben wird.

Doch ach, hundertausende taten es unseren Helden nach und strömten mit abenteuerlichen Fuhrwerken in das Gebiet, das von allen liebevoll Kernschattenzone genannt wurde. Listig, wie sie nun einmal waren, verließen sie frühzeitig die verstopften mehrspurigen Wege und schlugen sich todesmutig in die Wildnis. Irgendwo hinter dem Ort Schaidt (bei Minfeld, bei Kandel, bei Landau, bei Karlsruhe) noch vor der Grenze, hinter der die Franzosen hausen, fanden sie den Platz, der als würdig befunden wurde, dort das Jahrhundertereignis zu erwarten.

Der Mond hatte bereits sein stilles Werk begonnen und einen Teil der Sonne verdeckt. Mit phantasievollen und allesamt kleidsamen Utensilien schützten unsere Helden ihre Augen vor den unbeirrt strahlenden Überresten des Sonnenlichts. Die wenigen vom Glück gesegneten, die ebenfalls diesen Ort zur Beobachtung des Phänomens erwählt hatten, konnten teilweise selbst gebastelte Brillen mit dicken Folien, Schweißerbrillen und Schutzgläser beobachten, die Dank des verliehenem CE-Siegels dafür sorgten, dass die Furchtlosen auch heute noch im Besitz ihres Augenlichtes sind – zumindest waren sie es noch am nachfolgenden Tag.

Während das Umland von dichter Wolkendecke und gar Regen gepeinigt wurde, tat sich zur Stunde der totalen Finsternis der Himmel über unseren Helden auf und erlaubte den nur durch Folien getrübten Blick auf die schwindende Sonne. Um 12 Uhr und 30 Minuten – zur Zeit des Mittagsmahls – lag auf dem Land die schummrige Stimmung einer Abenddämmerung. Schlagartig – in dem Moment, in dem die dünne Sonnensichel hinter dem Mond verschwand – verfinsterte sich der Landstrich, sodass ein einsamer Stern in Lücken der dünnen Wolkendecke auftauchen konnte. Um dem Mond herum strahlte die nun mit dem bloßen Auge sichtbare Korona der Sonne. Sogar rot leuchtende Protuberanzen bekamen die Finsternishungrigen zu Gesicht. Der Horizont warf rundherum noch ein leichtes Dämmerlicht auf unsere Helden, so dass sie in der Lage waren, ihre mitgeführten Apparate zu bedienen und für alle Ewigkeit diese Momente in Bildern festzuhalten.

So schnell, wie die Dunkelheit hereingebrochen war, so schnell entschwand sie mit den ersten Sonnenstrahlen. Aufgewühlt von den Eindrücken der letzten Minuten verharrten die Helden und beobachteten mit ihren Utensilien die Rückkehr des Sonnenlichts. Jeder Versuch, das Beobachtete zu verarbeiten, musste zu diesem Zeitpunkt noch scheitern. So entluden sich die Emotionen in begeisterten Begrüßungen der Sonne, die wohl in den Weiten des Weltraums verklungen sein dürften.

Nachdem die Wolken sich entschieden, die letzten Momente der Befreiung der Sonne im Verborgenen zu belassen, versuchten unsere Helden ihre nun wertlosen Utensilien an naive Fremde zu Sonderpreisen zu veräußern. Leider erwiesen sich die Fremden nicht als naiv genug, um den verlockenden Geboten nachzugeben – was Wunder, schließlich hatte ihr Instinkt sie ebenfalls zu diesem wundervollen Platz der Verdunkelung geführt.

Auf der Heimreise nach Walldorf begegneten unsere Helden vielen der hundertausenden Besucher dieses Landstriches, die ihrerseits den Weg in die Heimat suchten und ihn im Laufe der Woche meistens auch fanden. Zurück bleiben wundervolle Erinnerungen und Fotos von kleinen Sicheln, roten Kreisen und von Menschen, die aberwitzig bebrillt ihre Köpfe in die Nacken legen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, fahren sie am 3. September des Jahres 2081 noch einmal in den Süden ihres Heimatlandes, um zu beobachten, wie der Mond erneut den Tag zur Nacht macht.

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